Mittwoch, 1. Juni 2016

Kein richtiger Goth? Gothic-Elite? Toleranz innerhalb der Szene

Hallo, meine lieben alternativen Menschen!

Heute möchte ich euch - grob gesagt - mal etwas zum Thema Toleranz innerhalb der Schwarzen Szene erzählen. 

Die zauberhafte ReeRee Phillips hat heute ein Video veröffentlicht, in dem sie über Haters redet, die sie und ihre Person immer wieder mit fragwürdig intelligenten Kommentaren angreifen. Schlimm genug, dass es Menschen gibt, die ihr eigenes Leben aufwerten müssen, indem sie Andere, die sie nicht kennen, sinnlos kritisieren, gar beleidigen. Aber gut, so ist es wohl im Internetzeitalter - vermeintliche Anonymität bringt den einen oder anderen komischen Menschen dazu, sein Inneres zu zeigen - ob man es nun kennen will oder nicht. Allerdings finde ich es immer wieder erschreckend, wenn dann szeneintern so heftig gemobbt wird, wie die liebe ReeRee Phillips es in ihrem Video beschreibt.

Das hat mich dazu inspiriert, euch meine Erfahrungen mit dieser ganzen Thematik und meine Meinung dazu einmal genauer mitzuteilen. 

Als ich mit blutjungen 15 Jahren meine ersten Schritte in der Goth Szene wagte, war ich, wie vermutlich die Allermeisten unter uns, doch recht unsicher und unerfahren. Dies lag vor allem daran, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, in der es ungefähr drei Szeneanhänger (und nicht einmal eine Zugverbindung in größere Städte) gab. Naja - vielleicht waren es auch fünf Anhänger, aber diese fünf Leute bewegten sich leider nicht in meinem Freundeskreis. Demnach hatte ich diesbezüglich keine großartigen Vorbilder oder Menschen, die mich einfach mal mit zu entsprechenden Veranstaltungen nahmen. Alles, was ich über die Szene wusste, hatte ich irgendwann mal aufgeschnappt oder las es in den entsprechenden Szene-Zeitschriften, die ich mir, auf Grund meines kleinen Taschengeldes, nicht allzu oft gönnte. Ich bastelte mir also meine eigene kleine Szene, lief schwarz herum, sonderte mich immer mehr von den unerträglich oberflächlichen Menschen in meinem Umfeld ab (die sich natürlich auch von mir absonderten, schließlich war ich nun ein Grufti!), hörte meine Musik, die damals größtenteils aus verschiedenen Metal-Geschichten und Goth Rock/Metal bestand.
Das Internet nutze ich tatsächich eher sporadisch, dass kam erst später so richtig. Aber als ich mich einmal in einen regionalen Chat verirrt hatte und dort auch noch einen offensichtlich "schwarzen" Menschen gefunden hatte, freute ich mich natürlich sehr. Auf die Frage hin, was ich für Musik höre, kam von mir, sowas wie: "Sisters of Mercy, Korn, Slayer, The 69 Eyes, Silke Bischoff..."
Die Antwort darauf war für mich ein Graus: "Das ist kein Gothic. Du bist gar kein richtiger Grufti!"

Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie ich mich damals, sehr sensibel und schüchtern, wie ich so war mit 15, gefühlt habe. Natürlich hatte er Recht damit, dass Bands wie Korn oder Slayer definitiv nicht als Gothic bezeichnet werden können. Allerdings hörte ich auch andere Stilrichtungen, die einfach ignorant als zu untrue abgestempelt wurden. Aber ich dachte, ich ergreife mal die Chance, schließlich hatte ich ja nun offenbar einen echten Szenekenner, einen "Altgrufti" ausfindig gemacht, und fragte, was denn ein richtiger Goth sei? Und was man denn da für Musik hören müsste, um zu diesem elitären Club dazu zu gehören? Die Antwort war der übersendete Link der offiziellen Lacrimosa Homepage, sonst nichts. Danach habe ich viel Lacrimosa gehört und mich ziemlich lange für "nicht gruftig genug" gehalten :D.

Was soll man jetzt davon halten? Heute, nach 15 Jahren Szenezugehörigkeit, nach vielen sehr netten und wunderbaren Menschen, die ich innerhalb (und natürlich auch außerhalb) der Szene kennen lernen durfte, nach unzähligen Veranstaltungen, Konzerten, Partys, Musikstücken und Bands, diskussionsreichen Nächten, kurz gesagt: nach meiner "Reifung" zu einem offiziell erwachsenem Menschen und Mitglied des "Clubs": Man, war das ein armer, ignoranter und bestimmt ziemlich einsamer Mensch! Ein Mensch, der offenbar nicht verstanden hat, was es mit der ganzen Sache wirklich auf sich hat. Statt mich zu fragen, warum ich mich für einen Goth halte, was ich darüber denke, was es für mich aussagt und ausmacht, fragt er, was ich für Musik mag und verurteilt mich auf Grund meines Musikgeschmacks mit 15 (!!! 15 jähriger Teenager  - da waren wir alle etwas komisch :D ).

Offenbar bin ich damals an einen Menschen geraten, der nur in Schubladen denken kann, der sich für einen richtigen Grufti, für die sogenannte Gothic-Elite hält, und seine Szene um alles in der Welt abkapseln möchte von den bösen Einflüssen des Mainstreams - was ja bis zu einem gewissen Grad auch ok ist, schließlich stellt sich die Szene entschlossen gegen den Kommerz. Aber szeneintern herummobben? No-Go!
Ich glaube, Menschen, die sich für eine Gothic-Elite halten, haben die Szene null verstanden. Es wird sich Toleranz auf die Fahne geschrieben, Oberflächlichkeit verteufelt, reflektiertes Denken gepredigt, und dann werden fleißig Menschen verurteilt, beleidigt und verunsichert. Zu Menschen, die nicht einmal szenintern in der Lage sind, Toleranz zu üben, kann ich nur sagen: "Won't find me practising what I'm preaching" (uh - ein Zitat aus der Mainstream-Popmusik, shame on me!). 
Wer meint, es gäbe so etwas wie eine Gothic-Elite, kennt offenbar die Hintergründe, die Ursprünge der Szene nicht wirklich, die aus der britischen Punk-Bewegung entsprungen ist. Als Reaktion auf die aggressive Attitüde, die zunehmende Kommerzialisierung und auch das langsame Schwinden des Punk, entwickelte sich neben anderen subkulturellen Bewegungen auch das, was wir heute die Schwarze Szene nennen. Die frühen Anhänger stammten häufig aus sozial gut gestellten, gar elitären Familien (anders, als im Punk), gegen die sie unter anderem auf ihre Art rebellierten. Neulich habe ich in einem schwarzen Netzwerk ein Foto einer sehr aufwendig gestylten Dame im viktorianischen Stil gesehen, mit dem Kommentar darunter: "Platz da, hier kommt die Elite!" - WTF? Wenn das die Szene ist, möchte ich nicht mehr dazu gehören. Aber glücklicherweise weiß ich, dass dort draußen eine Menge Leute sind, die dies alles exakt genauso empfinden, wie ich es tue und sich von diesem so oberflächlichen, elitären Denken distanzieren.

Aber gut - langer Rede kurzer Sinn: kommen wir zum Schluß.

Gothic in seinen Urspüngen war eben nicht elitär (und ist es auch heute nicht), sondern gerade in den Anfängen absolut vielfältig und vor allem nicht aggressiv. Also: Nehmt euch nichts von beleidigender, harscher Kritik von jemandem, der sich für einen "richtigen Grufti" hält, an. Macht das, was euch glücklich macht, was ihr mögt, liebt. Ihr braucht euch vor niemandem zu rechtfertigen, außer vor euch selbst. Wer die Szene wehement gegen Veränderung und Neuerung "verteidigt", sich gegen die wunderbare Vielfalt stellt, Menschen verurteilt, beurteilt oder gar ausschließt, ist nicht besser, als jeder Nazi.

Und natürlich darf man eine eigene Meinung haben, man sollte - nein - man muss sogar dringend nicht meinungslos sein, herumlaufen, als gäbe es nichts in der Welt, worüber man nachdenken könnte oder müsste, und alles tolerieren. Aber bitte: Kritik sinnvoll formulieren, ggf. belegen und Mitmenschen mit Respekt behandeln - szeneintern wie extern! Man sollte meinen, dass man so etwas schon in der Kinderstube lernt...


Wer mehr über die Schwarze Szene und ihre Ursprünge erfahren möchte und Quellen zu meinen Aussagen über diese benötigt, hier: 

Behr, Johann (2007): Identitätssuche in jugentlichen Subkulturen. Skinheads, Punks und Gothiks. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller

El-Nawab, Susanne (2007): Skinheads, Gothics, Rockabillies: Gewalt, Tod und Rock'n'Roll. Eine ethnographische Studie zur Ästhetik von Jugendlichen Subkulturen. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag KG 

Stieg, Ecki (2000): Eine Szene ohne Namen. In: Matzke, Peter, Seelinger, Tobias: Gothic! Die Szene in Deutschland aus Sicht ihrer Macher. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, S.15-21


Und wer das Video von ReeRee Phillips ansehen, welches mich zu diesem Post inspiriert hat und wissen möchte, worum es genau ging:


  
So. Das musste mal gesagt werden.

Und wer es bis hier geschafft hat: Cheerio and stay different!

Eure 


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